Czernin

E.L. Edelstein
Ingrid Mitterecker
Christian Mitterecker

Yoram schlägt sich durch

Eine Jugend in der Nazizeit

Mit vierzehn kommt Yoram zur sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung „Haschomer Hazair“ und begegnet hier Anna, seiner ersten großen Liebe. Gemeinsam träumen sie von einem unabhängigen jüdischen Staat.

November 1938: Nach der „Kristallnacht“ reist Yoram gemeinsam mit Anna und seiner Gruppe auf einem der letzten Schiffe der Jugend-Alija aus. Die Eltern müssen sie in Wien zurücklassen. In Palästina treffen sie wieder auf Gewalt. Doch Yoram erfährt auch ein nie gekanntes Gefühl von Freiheit, „dass man vor nichts Angst zu haben braucht“ – ein Gefühl, das ihn nicht mehr verlassen wird. Das Leben im Kibbuz gemeinsam mit Anna, Geschichten vom Hunger und von der Begeisterung, von der Stille der Landschaft und von der Notwendigkeit, der Möglichkeit sich zu verteidigen. Als er beschließt aus dem Kibbuz auszutreten und als Freiwilliger im britischen Militär aktiv etwas gegen die Nazis zu unternehmen, trennen sich Yorams und Annas Wege. Mehr als fünfzig Jahre später kehrt Yoram Feingold als berühmter Psychiater nach Wien zurück. „Yoram schlägt sich durch“ ist eine authentische Geschichte von der Wehrlosigkeit und vom Sich-Wehren, erzählt nach den Jugenderinnerungen Elieser Ludwig Edelsteins.

 

Leseprobe:

Zwei Geschichten der Demütigung. Ich konnte darüber nicht reden. Ich wollte es nicht erzählen. Dieses Nichterzählenwollen ist bekannt. Die wenigen Menschen, die das grauenhafte Morden in den Konzentrationslagern überlebten, haben oft fünfzehn, zwanzig Jahre lang geschwiegen. Ich selbst, ich, Yoram Feingold, war in keinem Konzentrationslager, ich habe nichts Vergleichbares erlitten … Meine erste Geschichte der Demütigung. Sie erwischten mich. Ich war alleine unterwegs und plötzlich sah ich eine Menge SA-Leute, das war am Schottenring, sie fassten mich und fragten: „Jude? Nichtjude?“ Die Nichtjuden durften gehen, und die Juden mussten bleiben, ich mit ihnen. Ich hätte natürlich „Nichtjude“ sagen können. Es ist ja nicht so, dass man sieht, wer Jude ist und wer nicht. Ich hatte blonde Haare! Ich dachte gar nicht nach. Ich sagte: „Jude!“ Ich war stolz Jude zu sein. Mein Judentum zu verleugnen, das wäre für mich ein Verrat am Haschomer Hazair gewesen, ein Verrat an allen Juden in der Welt. Mit Bürsten und Seife mussten wir die Straße waschen. Da stand: „Sag ja zu Österreich!“ Das war die Parole, mit der Schuschnigg noch zur Volksabstimmung für Österreich aufgerufen hatte. Eine wahre Sisyphusarbeit. Unser mühseliges, entwürdigendes Schrubben wurde von Gemeinheiten, vom sadistischem Gelächter der Beifall klatschenden Menge und von Fußtritten der SA-Leute begleitet. Dieses Von-oben-herab-Schauen auf uns Hilflose war ihnen ein Fest. Es war nicht nur die Erniedrigung, in mir kochte eine unglaubliche Wut, eine ohnmächtige Wut, auf diese unmenschlichen Peiniger und auf mich selbst, der ich in einer so machtlosen Situation gefangen war. Die Leute riefen: „Arbeit für die Juden! Endlich Arbeit für die Juden! Wir danken unserem Führer, er hat Arbeit für die Juden beschafft!“ Wie sie wohl aussahen, mit ihren vor Begeisterung glühenden Gesichtern? Wir mussten immer nach unten schauen, sonst bekamen wir noch mehr Fußtritte. Ich sah nur Stiefel, die Stiefel der SA-Männer. Mir wurde bewusst, ich bin verwundbar und die können mit mir machen, was sie wollen. Ich verstand, es ist alles nur eine Frage der Machtverhältnisse. Herzls Satz, da ist er wieder: „Wer der Fremde im Land ist, das kann die Mehrheit entscheiden.“ Ich hatte es am eigenen Körper erfahren. Als ich endlich gehen durfte, sah ich einen kleinen Beamten, der auch in der Neustiftgasse, im Haus gegenüber wohnte. Er war ein schmächtiger, scheuer Mann. Da stand er, in Uniform, Reithosen und Stiefeln. Wie groß die Menschen werden, wenn sie Stiefel anhaben! Jeder ein kleiner Führer. In dem Moment wusste ich, warum mich die SAler geschnappt hatten. Unser Nachbar musste ihnen gesagt haben, dass ich ein Jude bin. „Nehmt den, der wohnt bei mir gegenüber. Die sind Juden!“ Meine zweite Geschichte der Demütigung: die Generalprobe. Ich wollte gar nicht. Natürlich wollte ich nicht. Das war ähnlich wie am Schottenring. SA-Männer zogen von Haus zu Haus, und wo ein jüdischer Name war: „Raus!“ Zwanzig, dreißig Leute waren wir. Die hatten mich einfach aus unserer Wohnung geholt. Ich war derjenige, der eben gerade daheim war. Sonst hätten sie meinen Vater genommen, wenn er da gewesen wäre, oder meinen Bruder. Die SA-Leute brachten uns in einen dunklen Keller. Mit dem klaren Wissen, wie dieses Haus gebaut war, dass wir im Keller deutlich hören konnten, was oben vorging. Wir waren lauter Männer, ich der Jüngste, noch kaum ein Mann, und wir waren alle in totaler Panik. Wir wussten nicht, was uns drohte. Und dann führten sie einen von uns hinauf: „Los! Rauf! Gemma!“ Dann hörten wir ein Urteil: „Sie sind zum Tode verurteilt als Jude!“ oder „Sie sind zum Tode verurteilt als Kommunist!“ Dann hörten wir einen Schuss und jemanden umfallen. Was mehr brauchten wir uns vorzustellen! Wir dachten: ES IST AUS. Und das ging langsam, einer nach dem anderen. Ich wusste nicht, wann ich dran sein würde. Aber schließlich wurde ich hinaufgeführt. Von jenen, die vor mir oben waren, sah ich keinen mehr. Ich stand alleine im Raum auf einem Teppich. Die SA-Männer saßen an einem Tisch, einer von ihnen stand, der war ganz groß. Er sagte zu mir: „Sie sind zum Tode verurteilt als Kommunist!“ Und dann fiel der Schuss! Die hatten in die Luft geschossen. War das ein Gelächter! Das amüsierte sie sehr. Sie hatten am Teppich gezogen, und ich war auf den Boden gefallen. Dann brachten sie mich durch einen anderen Ausgang hinaus. Wenn ich das Geschehene mit dem Abstand meines Lebens betrachte, so war es im Vergleich zu all dem, was nachher passierte, nichts. Eine Generalprobe. Aber andererseits, wenn man bedenkt, wie die das machten - wir standen Todesängste aus. Sie ließen mich gehen. Ich rannte heim. Und wie! Man ist ja nicht daran gewöhnt, dass man erschossen werden soll.