Czernin

Thomas Trenkler

Wiedersehen im Niemandsland

Die Geschichte dreier Brüder. 1940-1949

Eine literarische Rekonstruktion der Ereignisse anhand der Erinnerungen und Briefe dreier Brüder, die Mitte/Ende der 20er Jahre im sudetendeutschen Reichenberg als Söhne eines Kaufmanns geboren wurden, der kein Hitler-Bild in seinem Laden dulden wollte.

Den Ältesten zog man schon bald ein. Er kam nach Rußland, nach Rumänien, nach Frankreich. Er wurde verwundet. Und erlebte zwischendurch mit seiner Freundin ein glückseliges Wochenende in Wien. Der Mittlere brannte darauf, in den Krieg ziehen zu dürfen. Als es so weit war, gab es kaum mehr Illusionen. Vor den Toren der Stadt stationiert, erlebte er das Bombardement Dresdens. Und glaubte seinen Bruder verloren, der dort bei den Kapellknaben war. Doch der Jüngste überlebte. Wie durch ein Wunder. Er ging zurück zu seinen Eltern. Der Einberufungsbefehl kam zu spät. Von den Amerikanern an der Westfront gefangengenommen, floh der Mittlere nach der Kapitulation nach Reichenberg. Wo kein Bleiben war. Delogiert, ließ sich die Familie eines nachts gegen viel Geld nach Wien schleppen. Dort arbeiteten die beiden Brüder in einem Lokal der US- Soldaten. Und zweigten vom Gries ab, der zum Tanzen aufs Parkett gestreut wurde. Der Mittlere ging nach Frankfurt, wo der Älteste am Bahnhof Beschäftigung gefunden hatte. Sie lernten Frauen kennen, die sie bald heirateten. Der Jüngste blieb als Staatenloser in Wien und machte zunächst die Matura. Seinen älteren Bruder sah er im Niemandsland wieder: Auf der Brücke über der Salzach.

 

Leseprobe:

Eines Nachts, es muß der 12. März 1938 gewesen sein, kam der Vater bedrückt von einer Gesangsprobe nach Hause. Mit leiser Stimme, damit es die Buben nicht hören sollten, sagte er: „Du, Annerl, der Hitler ist in Österreich einmarschiert.“ Das Aufschluchzen der Mutter sei durch Mark und Bein gegangen. Ihr einziger Trost war, daß ihr Vater, der Lokomotivführer und kaisertreue Patriot, den Anschluß nicht mehr erleben mußte. Die Sudetendeutschen schöpften nun Hoffnung, daß der Führer, der doch von zehn Millionen Menschen jenseits der Grenzen gesprochen hatte, die unter seinem Schutz stünden, auch sie heim ins Reich holen werde. Am 28. März sagte Hitler dem Gründer der „Sudetendeutschen Partei“ seine Unterstützung zu einen Monat später, am 26. April, forderte Henlein, wie er es mit dem Diktator vereinbart hatte, in seinen „Acht Karlsbader Punkten“ unter anderem die territoriale Selbstverwaltung. Der tschechoslowakische Ministerrat, der nur zögernd zu Verhandlungen bereit war, ordnete am 21. Mai, einen Tag vor den Gemeinderatswahlen, eine teilweise Mobilmachung an, die von Hitler als „unerträgliche Provokation“ hochgespielt wurde. England, das gemeinsam mit Frankreich und Polen auf eine friedliche Regelung der Sudetenfrage drängte, entsandte daraufhin am 24. Juli mit Walter Lord Runciman einen Beobachter nach Prag, der die Rolle des Schiedsrichters übernehmen sollte. Die Kinder in Reichenberg, so auch die drei Brüder, skandierten immer wieder: „Lieber Lord, mach uns frei / von der Tschechoslowakei!“ Den Sommer 1938 verbrachten sie noch im Tschechischen: Lothar war wieder in Horní Slivno, Gerhard laborierte bei der Bauernfamilie, die sich rührend um ihn gekümmert hatte, an einer Erdbeerallergie. Und Toni, der nun ebenfalls die Bürgerschule besuchte, war bei einem Viehhändler zu Gast, wo er zwar nicht viel Tschechisch, aber jede Menge Tricks lernte: Um die Kühe jünger erscheinen zu lassen, wurden ihnen die Hörner abgesägt, wieder in Form geschliffen und mit Mist eingerieben und den Pferden gab man, damit sie am Markt vor unbändiger Kraft zu strotzen schienen, in die Kübel mit Wasser einen ordentlichen Schuß Korn.