Czernin

Ana Tajder

Titoland

Eine gleichere Kindheit

Jugoslawien in den 70er- und 80er-Jahren: ein Land im Aufbruch, ein Land im Gleichschritt. Obwohl die Grenzen zum Westen nicht abgeriegelt waren, ist über Leben und Alltag wenig bekannt. Ana Tajder öffnet nun mit „Titoland“ ein Fenster zu diesem Land, das uns seltsam fremd und vertraut scheint. Tajder wirft einen unsentimentalen Blick zurück in ihre Kindheit. Sie wächst in Titos Jugoslawien als einziges Kind einer angesehenen Familie auf, mit ihren Eltern – beide gut vernetzt in der Künstler- und Filmszene – erlebt Ana ein intensives Leben im pulsierenden Zagreb.

Scheinbar nur lose miteinander verknüpfte Kindheitserinnerungen, vom Sommer am Meer, den Reisen ins „Draußen“ oder dem stillen Glück, ein selbst genähtes und darum einzigartiges Kleid zu tragen, weben einen dichten literarischen Teppich vor dem Hintergrund des schrittweisen Zusammenbruchs von Titos Reich. Anas Kindheit endet nicht abrupt, sondern zerfällt schmerzhaft Stück für Stück, ganz wie das Land, in dem sie lebt. Was folgt, ist ein Aufbruch ins Ungewisse.

 

Leseprobe:

Am Tag der Aufnahmeprüfung verspätete sich meine Mutter wie üblich um Stunden. Sie musste mir unbedingt noch in letzter Minute ein Trikot kaufen. Ein Anruf in der Ballettschule stellte klar: Die Prüfung war längst vorbei. Einmal mehr rettete nur die Bekanntheit meiner Mutter die Situation, ich erhielt umgehend einen Termin für eine „Privatprüfung“. Allerdings musste es schnell gehen, die Prüfung war noch für denselben Tag angesetzt. (...)

Die Schule lag in der Altstadt von Zagreb. Die Altstadt war auf einem Hügel angelegt, zu ihr führten die längsten Treppen, die ich bis dahin gesehen hatte. Mama zog mich die Stufen mehr hinauf, als dass ich sie ging. Ich weinte und bettelte, sie möge mich bitte nicht zu dieser Prüfung zwingen. Ich heulte lauter und lauter. Aus dem Nichts schlug sie mir ins Gesicht. Das war das erste und einzige Mal, dass meine Mutter ihre Hand gegen mich erhob. Ich verstummte und zwang jedes Schluchzen meine Kehle hinab. Bis zum Beginn der Prüfung sprach ich kein Wort mehr.