Czernin

Rupert Schöttle

Götter im Frack

Das Jahrhundert der Dirigenten

Bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts waren es Komponisten gewesen, die die Orchester leiteten. Der Beruf des Dirigenten wurde erst nötig, als die Musikwerke so kompliziert wurden, daß sich die Komponisten von der Umsetzung überfordert zeigten.

Der erste bekannte Fall dafür: die Oper „Tristan und Isolde“ blieb fünf Jahre lang unaufgeführt, weil ihr Komponist Richard Wagner sich außerstande sah, sein eigenes Werk zu realisieren. So erzog er seinen Jünger Hans von Bülow zum ersten hauptberuflichen Dirigenten. In zwölf Lebensbildern der bedeutendsten Dirigenten zeigt Rupert Schöttle, selbst ein erfahrener Orchestermusiker, die beeindruckende Entwicklung, die der Stand der Pultvirtuosen innerhalb dieses Jahrhunderts gemacht hat. Der großzügig gestaltete Band stellt neben einer reichen Bilddokumentation auch eine CD von Arbeiten der Biographierten vor.

 

Leseprobe:

Der Allmächtige. Herbert von Karajan (1908-1989). Bei nahezu jedem anderen Dirigenten erlosch die Nachfrage nach seinen tönenden Zeugnissen schon bald nach dessen Ableben. Nach einem letzten, von Pietät getragenen Boom verschwinden die Aufnahmen des Dahingeschiedenen gewöhnlich vom Markt, um bestenfalls nach etlichen Jahren noch einmal als „historisches Dokument“ aufzutauchen. Der multimediale Dauerläufer Herbert von Karajan hingegen war selbst durch seinen Hingang nicht zu bremsen. Zehn Jahre nach seinem Tod ist der Absatz seiner Platten unerreicht, bis heute hat sich kein adäquater Nachfolger für den Maestro aller Klassen gefunden. Fachleute schätzen, dass Karajans Aufnahmen noch heute 40 Prozent des Geschäftes der „Deutschen Grammophon Gesellschaft“ (DGG) ausmachen, die immerhin auch Pultstars von der Größe eines Claudio Abbado oder James Levine unter Vertrag hat. Auch im Jubiläumskatalog des Gelben Riesen von 1998 ist die Dominanz des gebürtigen Salzburgers unübersehbar: Von den 89 Compact Discs mit orchestralen Aufnahmen, die hier angeboten werden, ist ein gutes Drittel unter der Stabführung des längst Verblichenen entstanden. Im Allgemeinen zeigen sich Plattenkonzerne bereits zufrieden, wenn eine Klassikeinspielung mehr als den „point of break-even“ erreicht - doch bei dem „besten Dirigenten der Welt” rechnet man freilich in anderen Dimensionen. Selbst auf einem gesättigten Markt lässt sich mit dem Namen Karajan noch immer viel Geld verdienen. Dieses einmalige Phänomen inspiriert die Kreativität der Schallplattenproduzenten ständig aufs Neue und führt dazu, dass regelmäßig erbauliche Weisen unter Karajans sachkundiger Leitung neu zusammengestellt und mit einem sinnigen Titel versehen unters Volk gebracht werden. So wurde im März 1995 ein Potpourri von elf langsamen Sätzen zusammengestellt, das unter der kuschelweichen Bezeichnung „Adagio. Ewige Schönheit großer Musik“ weit über 1,5 Millionen Käufer fand und zum Klassik-Seller des Jahres wurde. Ermutigt von diesem Erfolg brachte die DGG gleich noch einige weitere Platten heraus, die diesem Konzept folgten: sowohl „Adagio II“ wie auch „Romantic Karajan“ konnten nahtlos an den Erfolg des Vorgängers anschließen. Unbestätigten Gerüchten zufolge ist die Plattengesellschaft unterdessen auf eine Idee verfallen, die sie der finanziellen Sorgen auf Jahre hinaus entheben könnte. Ebenso wie das „Christmas Adagio” das Weihnachtsfest 1997 zu einem ganz besonderen Glanz führte, ließe sich künftig für jeden Anlass eine zweckgebundene CD herausbringen. Von der Wiege bis zum Grabe könnte so jeder Festtag mit Karajans Hilfe zu einem einmaligen Erlebnis für die gesamte Familie werden. Und ließe sich nicht eigentlich auch der Alltag mit einer tönenden Kostbarkeit versüßen? Denkbar wäre etwa ein monumentaler Abreisskalender, der für jedes Datum eine Überraschung in Form einer kleinen CD bereithielte - mit Karajan gliche kein Tag mehr dem anderen. Bis zur endgültigen Realisierung dieses Mammut-Projekts kramt man derweilen in den Archiven nach bisher unveröffentlichten Aufnahmen des Meisters. 1998 edierte die DGG vier Live-Mitschnitte aus der Wiener Staatsoper, die trotz einiger aufnahmetechnischer Unzulänglichkeiten reißenden Absatz fanden. Wie man sieht, überlebt der „Genius des deutschen Wirtschaftswunders”, als den ihn einst Theodor Adorno bezeichnet hatte, auch dieses mühelos. Über vierzig Jahre dominierte Herbert von Karajan den Klassikmarkt in einem solchen Maße, dass die Frage, ob er das Musikleben geprägt hat oder ob er dieses nur besonders geschickt zu nutzen verstand, nicht zu beantworten ist. Mit Ausnahme von zeitgenössischen Kompositionen gibt es kein Gebiet, das nicht von Karajans Aufnahmen flächendeckend belegt ist: Für die Freunde der eher schmissigen Musik gibt es krachlederne Märsche und Ouvertüren, das sensiblere Gemüt wird mit Barockpetitessen von Albinoni bis Vivaldi zufriedengestellt, jungverliebte Pärchen können zu romantischen Schmonzetten ihre Zärtlichkeiten austauschen, auch für das Bildungsbürgertum ist durch das von Monteverdi bis Strawinsky reichende Angebot Karajan’schen Schaffens ausreichend gesorgt. Seinen weltweiten Ruhm hatte er einst mit seiner beispiellosen Präsenz in allen europäischen Musikmetropolen begründet. 1957, also noch nicht einmal fünfzigjährig und für dirigentische Maßstäbe ein noch durchaus junger Mann, war er nicht nur Chefdirigent der Berliner Philharmoniker und künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper, Chefdirigent des Philharmonia Orchestra London und Konzertdirektor der Gesellschaft der Musikfreunde Wien, sondern auch künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele und einer der Hauptdirigenten der Mailänder „Scala” - er war der „Generalmusikdirektor von Europa”. Mit einer beispiellosen Imagekampagne ließ sich Karajan zum zeitgemäßen Heilsträger der E-Musik stilisieren. Er wurde zum Prototyp des modernen Orchesterleiters und zum Vorreiter des technischen Fortschritts, dessen Wirkungskreis nicht am Bühnenausgang endete. Ob im Feuilleton, in Fachzeitschriften über Tontechnologie oder in den Klatschspalten der Regenbogenpresse - Karajan war einfach allgegenwärtig. Selbst im Jetset, der sich üblicherweise fern des Künstlerischen vergnügt, wurde ihm der größte Respekt entgegengebracht. Auch Geschichten und Legenden über seinen sportlichen Ehrgeiz wurden gerne publiziert - schließlich fügt sich nichts besser in das Bild eines rastlosen Dynamikers als sportliche Ausnahmeleistungen. Auf vielen Fotografien ließ er sich am Lenkrad seines neuesten Sportwagens, am Steuerrad seiner Yacht oder im Cockpit seines Flugzeugs porträtieren. Die Ablichtungen des sportbesessenen Meisters sollten dem Konsumenten vermitteln, dass der Dirigent auch auf jedem anderen Gebiet Außergewöhnliches zu leisten imstande war. Immerhin galt er eine Zeitlang als einer der besten Amateur-Skiläufer Europas, als Pilot steuerte er sein zweistrahliges Düsenflugzeug selbst, als Autofahrer betätigte er sich in seinen frühen Jahren sogar als veritabler Rennfahrer und schließlich gewann er noch 1982 als Skipper eine nicht unbedeutende Regatta. Gern wurde erzählt, dass er im Jahre 1971 am Vormittag einer „Fidelio”-Premiere einen neuen Rennwagen auf dem Salzburg-Ring ausprobiert hatte, mit dem Fahrzeug ins Schleudern geriet, sich überschlug - und am Abend wie selbstverständlich am Dirigentenpult stand. Doch nicht alle technischen Kalamitäten eigneten sich zur Publikation: Als er in der Nähe von Salzburg seinen Sportwagen wegen eines Fahrfehlers ins Grüne setzte, parlierte er französisch mit den ihm zu Hilfe kommenden Bauern, um sein Inkognito zu wahren. Und als in Wien sogar einmal ein Fußgänger zu Schaden kam, als Karajan seinen Wagen zu ungestüm um die Kurven warf, wurde auch dieser Vorfall totgeschwiegen - solche Ereignisse passten nicht zum Bild des sportiven Herrenfahrers. Dabei hatte Karajan im Widerspruch zu dem verbreiteten Klischee vom sportiven Ausnahmeathleten schon ziemlich frühzeitig mit erheblichen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, die man aus werbetechnischen Gründen allerdings tunlichst geheimzuhalten trachtete. So zögerten seine PR-Fachleute zuweilen auch nicht, der Wahrheit ein wenig Dichtung beizumengen, um Karajans Vitalität auch im gesetzteren Alter zu unterstreichen. Anlässlich seines siebzigsten Geburtstags wurde etwa das Gerücht verbreitet, er wolle sich einer Himalaya-Expedition zur näheren Erforschung des Van-Allen Ringes anschließen dass dieses Abenteuer dann nicht zustande kam, wurde damit erklärt, dass die Expedition noch nicht bereit gewesen sei. In Wahrheit wäre der Maestro zu einer so extremen Strapaze längst nicht mehr fähig gewesen, seine lädierten Bandscheiben hätten dies nicht mehr zugelassen. Zudem erlitt Karajan im selben Jahr einen Schlaganfall, der offiziell als Kreislaufkollaps deklariert wurde - erst acht Jahre später erfuhr die erstaunte Öffentlichkeit den wahren Sachverhalt. Diese schweren Leiden, übersteigert noch durch äußerst schmerzhafte Nierensteine, hätten jeden Durchschnittsbürger niedergeworfen, nicht so Karajan. Mit unerbittlicher Strenge sich selbst gegenüber bemeisterte er seine existentiellen Schmerzen. Seinen schweren Behinderungen zum Trotz unterwarf er sich seinem dicht gedrängten Terminplan. Eine körperliche Schwäche wäre mit dem so sorgsam aufgebauten Image des fortschrittlichen Dynamikers unvereinbar gewesen.