Czernin

Hermann Denz

Die europäische Seele

Leben und Glauben in Europa

Im November 2000 erschien im Czernin Verlag der erste von drei Bänden zur Europäischen Wertestudie, die seit 1990 auch in Österreich Werthaltungen und Lebenseinstellungen der Menschen erforscht: „Die Konfliktgesellschaft. Wertewandel in Österreich 1990-2000". Dieser Analyse der österreichischen Ergebnisse und ihrer Entwicklung in den letzten zehn Jahren folgte im Spätsommer 2001 „Experiment Jungsein. Die Wertewelt österreichischer Jugendlicher“, in dessen Zentrum die Lebenswelt der jugendlichen Bevölkerung in Österreich steht. Nun komplettiert „Die europäische Seele“ diese dreibändige Reihe, die auch gemeinsam in einem Schuber erhältlich sein wird.

„Wie lebt und glaubt Europa?“ – im Rahmen der Europäischen Wertestudie 1990-2000 wurden auf Basis internationalen Datenmaterials die Lebenskonzepte und Werthaltungen von EuropäerInnen zu verschiedenen person- und gesellschaftsbezogenen Themenfeldern erforscht: Religion und Politik, Arbeit, Familie und Freizeit. Ein Vergleich mit den vor zehn Jahren erhobenen Daten lässt – neben Informationen über aktuelle Meinungen – brisante Ergebnisse über Strukturen und Veränderungen der Einstellungen in Europa erwarten.

 

Leseprobe:

Zum Titel. In unserer christlich geprägten Kultur denkt man bei Seele meist an etwas Metaphysisches. Der Duden definiert Seele als a) substanz- und körperloser Teil des Menschen, der in der religiösen Vorstellung als unsterblich angesehen wird, nach dem Tode weiterlebt b) Gesamtheit, gesamter Bereich dessen, was das Fühlen, Empfinden und Denken eines Menschen ausmacht. In diesem zweiten Sinn – als Wesenskern, als Identität – wird in vorliegendem Buch Seele verstanden: Identität als das, was Europa unverwechselbar macht, was das Besondere ausmacht. Eine solche Identität ist etwas Historisches, nichts Feststehendes, sie verändert sich im Laufe der Geschichte oft sehr grundlegend: Zwischen Völkerwanderung und Mittelalter war Europa eher ein dunkler Kontinent, später der Kontinent des Humanismus und der Aufklärung, der Kontinent der Eroberung und Kolonialisierung und der Kontinent der Weltkriege. Eine solche Zuschreibung lässt aber viele Unterschiede außer Acht. Nicht alle Länder Europas eroberten und kolonialisierten in gleicher Weise rund um den Erdball, in den Weltkriegen gab es Aggressoren, überfallene Länder und neutrale Staaten. Identität ist also keine abgeschlossene Einheit, kein Ganzes, innerhalb der allgemeinen Zuschreibung existieren viele Unterschiede, Brüche und Differenzen. Das ist auch heute so und gilt nicht nur für Gesellschaften, sondern auch auf für Individuen. Die psychologische Forschung bezeichnet die Identität des (post-)modernen Menschen als Patchwork-Identität, die Soziologie den heute typischen Lebenslauf als Patchwork- Biographie. Patchwork steht für den Versuch, aus vielen auch sehr heterogenen Einzelteilen etwas weder Vollkommenes noch Abgeschlossenes zu machen, das dennoch eine halbwegs tragfähigen Grundlage für soziales Handeln schafft. Die historische Dimension der europäischen Seele: Europa als Kontinent der fortwährenden Teilungen Um die Ergebnisse verstehen zu können, ist es sinnvoll sich zu vergegenwärtigen, dass Europa im Laufe der letzten 2000 Jahre mehrfach in unterschiedliche politische und kulturelle Sphären aufspalten wurde. Die zeitlich letzte Teilung durch den Eisernen Vorhang ist noch am besten in Erinnerung, ihre Spuren zeichnen sich in der europäischen Wertewelt am deutlichsten ab. Aber um diese etwas zu relativieren: Auch alle anderen Teilungen hatten ihre Auswirkungen und hinterließen ihre Spuren. Die historische Dimension der europäischen Seele: Die geschichtlichen Erfahrungen der heutigen Europäerinnen und Europäer Einige der in der Europäischen Wertestudie Befragten haben beinahe das gesamte 20. Jahrhundert erlebt, zumindest die Zeit seit Ende des Ersten Weltkriegs. Diese Zeitspanne lässt sich durch markante, die Erfahrung der Menschen prägende Ereignisse in Abschnitte gliedern. Es ist anzunehmen, dass die Erfahrungen auch die Werte der Menschen geprägt haben. Diese Einteilung in Altersgruppen wird in allen empirischen Analysen in gleicher Weise verwendet und geht von der Hypothese aus, dass jemand etwa Jahre alt sein muss, damit ein Ereignis auch prägend wirkt. Die historische Dimension der europäischen Seele: Europa als Kontinent der Ungleichzeitigkeiten Nicht alle Teile Europas oder auch alle Teile der einzelnen Länder Europas verändern und entwickeln sich in gleicher Weise. Dieses unterschiedliche Tempo des sozialen, kulturellen, politischen oder auch wirtschaftlichen Wandels wird als Ungleichzeitigkeit (oder auch „cultural lag") bezeichnet. Infolge der unterschiedlichen kulturellen Ausgangsbedingungen, des unterschiedlichen Tempos und auch der Richtung des sozialen Wandels werden sehr unterschiedliche Gesellschaften innerhalb Europas nebeneinander existieren. Daneben bleibt die Frage nach Verbindendem – das es schon gibt oder das sich vielleicht entwickeln wird (mit der Frage nach einer europäischen Identität beschäftig sich Heinrich Neisser im Kapitel „Ausblick").