Czernin

Theresia Klugsberger
Ruth Pleyer

Berta Zuckerkandl – Flucht!

Von Bourges nach Algier im Sommer 1940

Berta Zuckerkandl, österreichische Autorin und Salonnière, floh im März 1938 von Wien nach Frankreich. Im Juni 1940 entschloss sie sich 76-jährig zu einer weiteren Flucht. Der Bericht ihres Entkommens, den sie kurz nach ihrer Ankunft in Algier für das Tagebuch ihres Enkels Emile verfasste, ist ein einzigartiges Zeugnis der Stadien und Strapazen einer Flucht vor dem Nationalsozialismus und eines Lebensabschnitts Berta Zuckerkandls, über den wir so gut wie nichts wissen.

Berta Zuckerkandl (1864–1945) war Journalistin und Schriftstellerin. Bis heute bekannt ist sie als Betreiberin eines Wiener Salons für Künstler und Wissenschaftler zur vorletzten Jahrhundertwende. In diesem verkehrten die intellektuellen Größen der damaligen Zeit – wie Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Gustav Klimt, Max Reinhardt, Auguste Rodin –, Gustav und Alma Mahler lernten sich dort kennen, die Wiener Secession wurde erdacht, Politisches spielte eine große Rolle.

Von Berta Zuckerkandl sind neben ihren journalistischen Arbeiten ihre Erinnerungen, Aufzeichnungen und Memoiren bis 1939 zugänglich. Der Bericht ihrer Flucht aus dem besetzten Frankreich nach Nordafrika stellt einen besonderen Glücksfall dar, ihre Memoiren um eine bisher gänzlich unbekannte Facette zu erweitern und ihre Autobiografie damit abzurunden. Zugänglich gemacht wird mit dieser wichtigen Veröffentlichung nicht nur der Text, sondern auch das komplette Autograf des Fluchtberichts, das Teil des von der Österreichischen Nationalbibliothek angekauften Archivs Emile Zuckerkandls ist.

 

Leseprobe:

Da hatte ich die Eingebung, Fritz zu fragen: „Sag mir, Fritz, könntest du dich leichter ohne mich retten?“ – Er sah mich mit seinen schönen, so stolzen Augen an und antwortete: „Ja, Mama, sicherlich. Aber ich kann dich nicht allein lassen.“ – Schon hatte ich mich dem Mann mit dem Stock genähert – aber er schlug mir auf die Brust, um mich zurückzustoßen, und schrie: „Hinten anstellen!“ – Ein zweiter Busangestellter flüsterte ihm ins Ohr: „Sie ist schon sehr alt, diese Dame; lassen Sie sie einsteigen.“ Ich schwang mich auf das Trittbrett. Fritz versuchte mich zurückzuhalten. „Nein“, sagte ich zu ihm, „du wirst vielleicht wieder zu mir stoßen. Nur allein kannst du dich durchschlagen.“ –
Der Wagen war voll. Nicht eine Sitzgelegenheit. Ich war stehend eingeklemmt. „Steig aus, Mama!“ schrie Fritz, „ich flehe dich an!“ In diesem Moment sprachen mich zwei Frauen an. Sie machten mir ein wenig Platz. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Ich sah Fritz, der uns nachlief und schrie: „Auf Wiedersehen, Mama, wir werden uns wiedersehen!“