Czernin

Reinhard Engel

Schöne, neue Wirtschaftswelt

Reportagen über Gewinner und Verlierer

Österreich zählt zu den wohlhabendsten Ländern der Welt. Und doch sind auch seine Bewohner in den letzten Jahren immer stärker mit den gewaltigen, oft brutalen Kräften der Wirtschaft konfrontiert worden.

Der renommierte, mit dem Renner-Preis ausgezeichnete Wirtschaftsautor Reinhard Engel versucht herauszufinden, wie die Menschen mit dem rasanten ökonomischen Wandel zurechtkommen. Wie sie ihre Chancen wahrnehmen, die ihnen etwa die neuen Märkte in den östlichen Nachbarländern bieten. Dem Autor gelingt es auf eindrucksvolle Weise, Wirtschaft jenseits von Zahlen als dynamischen Prozess sichtbar zu machen. Reinhard Engel sucht an Orten, an die man nicht sofort denkt, nach dem Neuen abseits von Klischees und geläufigen Mustern, nach Österreich und seinen Bürgern in ihren Schwächen und Stärken. In einem Einleitungsessay wird die ökonomische Seite des Wandels im Überblick erläutert: die Internationalisierung der Wirtschaft, die weiterhin zunehmende Konzentration der großen Unternehmen, die Ostöffnung und die neuen, flachen Unternehmenshierarchien und flexiblen Einheiten.

 

Leseprobe:

Vorwort . Vor fünf Jahren hat er sich seinen ersten Computer gekauft. Seit einigen Monaten stellt der gelernte Pflanzenschutztechniker Peter F. die österreichischen Landwirtschaftskammern ins Internet. Mittlerweile schicken ihm schon Bauern von Schädlingen befallene Blätter virtuell zur Begutachtung – am Hof eingescannt und via Web. Für Doris B. schien das berufliche Leben schon zu Ende. Der vierzigjährigen Kellnerin, die von einem Unfall eine leichte Behinderung davongetragen hat, wollte keiner mehr eine Chance geben. Doch sie hat noch einmal neu angefangen, hat Computer-Kurse absolviert – und betreut jetzt in einem Call Center am Telephon die Kundschaft einer privaten Telekom-Firma. Vergessen sind Verzweiflung und Depressionen. Erwin Sch. hat gleich nach der Matura zu arbeiten begonnen – und ist geradewegs in eine Gründerzeit hineingestolpert. Eben baute ein multinationaler Konzern in Wien seine Osteuropa-Zentrale auf, man brauchte einen Controller. Einige Jahre später – ehemalige Klassenkollegen geben gerade ihre Diplomarbeiten ab – ist er schon Stellvertreter des Finanzchefs und pendelt zwischen seinen Büros in Wien, Laibach, Budapest und Krakau. Das sind drei Beispiele von dreiunddreißig aus diesem Buch, Beispiele, die einen dramatischen Wandel in der österreichischen Wirtschaft beschreiben. Wenn die Internet- Revolution schon bis ins Dorf gelangt ist – wer kann sich ihr dann in den Städten noch entziehen? In manchen Branchen wüten die neuen Technologien zwar als gnadenlose Job-Killer, anderswo aber bieten sie ungeahnte Möglichkeiten – nicht nur für Spitzenkräfte. Jenseits herkömmlicher Bildungswege und Hierarchien eröffnen sich jungen Menschen plötzlich sehr direkte Aufstiegschancen. Auch die einstige Insel der Selig-Dösenden findet sich so mitten in einer rasanten Internationalisierung. Die Idee zu diesem Buch ist auf einer Reise durch Osteuropa entstanden – und das mag nur auf den ersten Blick verwundern. Denn bei den Recherchen zu einer ökonomischen Bilanz der zehn Jahre seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist eines immer offensichtlicher geworden: Im Westen sind dieselben Kräfte am Werk, die bei unseren osteuropäischen Nachbarn das Oberste zu unterst gekehrt haben – bloß ohne die rasende Zeitmaschine des politischen Systemwechsels. Auch in Österreich und in der übrigen EU fegen die globalen Finanzmärkte über die einst halbwegs souveränen Volkswirtschaften hinweg. Wer sich nicht anpasst, geht unter. Auch hierzulande hacken die großen Konzerne ganze Etagen gutverdienender Angestellter aus den Hierarchiepyramiden heraus, – und viele sind darauf überhaupt nicht vorbereitet. Und auch im Westen zerbröseln die festgefügten Grenzen zwischen den Unternehmen. Es entstehen komplexe, feingesponnene Netzwerke: im Zentrum einigermaßen stabile, aber schlanke Kernfirmen, darum herum die Trabantenschar der freien Mitarbeiter an befristeten Projekten, der Zulieferer, der Konsulenten und früherer, in die Selbständigkeit entlassenen Unternehmensteile. Dass das nicht ohne enorme Beanspruchung der Akteure vor sich geht, ist offensichtlich. Und dass dabei oft irrationale Ängste entstehen, ist nur konsequent. Etwa die Angst, von den in die EU strömenden Ungarn oder Polen überrannt zu werden – während gleichzeitig die Manager internationaler Investoren für ihre Fabriken in Westungarn kaum jemanden aus dem Osten des Landes zur Übersiedlung bewegen können. Aber natürlich: Es gibt auch wirkliche Verlierer. Menschen, die einfach zu langsam sind für die raschen Takte, die man jetzt fordert, Menschen, deren Ausbildung nicht mehr reicht und die den Anschluss an die neuen Entwicklungen verloren haben, Menschen, deren einst wertvolle Kenntnisse und Fähigkeiten der Markt nicht mehr braucht. Auch sie kommen in diesen Reportagen über „Gewinner und Verlierer“ zu Wort: der Drucker, der nach Kündigung und Scheidung in eine Abwärtsspirale gezogen wurde, die ihn erst zum Trinker und dann zum Obdachlosen machte, und der jetzt – trocken – mühsam versucht, wieder Fuß zu fassen die ungelernte Küchenhilfe, die ihre erste Ausbildung – zur Hilfsköchin – erst im Alter von vierzig Jahren absolviert der Wiener Innenstadt-Optiker, den nach den Fotoketten jetzt die ausländischen Brillenhändler unter Druck setzen und schließlich der elegante Tuchhändler, dessen Familiengeschäft das Ende der Monarchie, Arisierung und Rückgabe wie auch den Verlust des tschechischen Stammhauses überlebte – und den die europäischen Textilhandelsriesen jetzt endgültig vom Markt drängen. Aber die strahlenden Augen überwiegen. Die Studienabbrecherin aus Kärnten hat in vier brutalen Jahren neben dem Ganztagsjob eine Fachhochschule für internationale Wirtschaft abgeschlossen und sieht optimistisch in die Zukunft. Eine andere junge Frau aus der Weststeiermark – übrigens die erste „Studierte“ aus ihrem Dorf – macht Karriere in der boomenden Leiharbeits-Branche. Zwei dreißigjährige HTL-Techniker haben soeben mittels Management-Buy-Out die hochspezialisierte Abteilung eines schwedischen Telephon-Multis aufgekauft und erwirtschaften bei rasantem Wachstum einen Umsatz von einer halben Milliarde Schilling. Ein südsteirischer Weinbauer, der gerade 25 Millionen Schilling in seinen Keller investiert, spricht davon, dass die Qualität insgesamt schon sehr gut sei, jetzt wolle er aber „noch komplexere“ Weine machen. Doch auch auf das Bild des Aufbruchs fallen Schatten. So hat zwar der EU-Beitritt – wie die Ostöffnung – Österreichs Wirtschaft einen erheblichen Wachstums- und Modernisierungsschub verschafft. Aber nicht alle sind beim Take-off dabei. Der Salzburger Arbeiter eines internationalen Getränkekonzerns wurde in die Pension abgeschoben, weil man Tonic und Bitter Lemon jetzt zollfrei aus Deutschland importieren kann. Ein einst mächtiger obersteirischer Gewerkschafter musste erkennen, dass die Zeit der Betriebskaiser in der verstaatlichen Industrie endgültig zu Ende ist: Der neue ausländische Eigentümer verzichtete einfach auf seine Mitarbeit in der nunmehr schlanken Firma – die Kollegen haben es zähneknirschend zur Kenntnis nehmen müssen. Manche Portraits dokumentieren, wie schnell die Internationalisierung auch ihr Raubtiergebiss zeigen kann. So etwa dem Umweltconsulter, dem nach Einsetzten der Maßnahmen der EU-14 gegen die österreichische Regierung ein belgischer Auftraggeber gleich am nächsten Tag eine Beratungsleistung storniert hat. Oder der Wiener Fremdenführerin, die auf französischsprachige Gruppen spezialisiert ist und aus demselben Grund einen drastische Rückgang ihres Geschäft befürchtet. Im letztgenannten Fall kann weder die persönlichen Einstellung noch die professionelle Kompetenz verantwortlich gemacht werden. Doch das ist hier die Ausnahme. In den Geschichten, die hier erzählt werden, steht die Leistung des Einzelnen im Mittelpunkt – und damit die Antwort, die er oder sie auf ganz konkrete, oft unüberwindbar scheinende Herausforderungen gibt. Diese Antworten können höchst unterschiedlich sein: Klassische Karrieremuster – oder ganz individuelle Wege in die Selbständigkeit. Hier werden dreiunddreißig Lebenswege erzählt – ohne jede theoretische Vorannahme. Das Buch will nicht mehr als eine Erkundungsfahrt sein zu Menschen in diesem Land, denen Änderung passiert, die Veränderung aktiv gestalten. Die Männer und Frauen, deren Geschichten hier erzählt werden, kommen dabei selbst zu Wort, beobachtet aus neugieriger, aber scheuer Distanz. Diese Reportagen wollen nicht „unter die Haut gehen“, wie das die Boulevardmedien, ob gedruckt oder elektronisch, in ihrer Gier nur allzuoft versuchen – ohne Rücksicht auf Verluste. Die beschriebenen Personen sollen Subjekte bleiben, ihre eigene Würde und ihren Raum zum Atmen behalten, ihre Entscheidungen und Fehlentscheidungen ruhig argumentieren können. Ausdruck dieser vorsichtigen Umgangsweise ist die gewahrte Anonymität der Portraitierten. Zum einen sind Prominenz und der Marktwert der Eitelkeiten hier kein Thema. Zum andern sollen die so genannten „Verlierer“ zu all ihren Schwierigkeiten nicht noch zusätzlich an den Pranger gestellt werden. Und drittens sind viele der hier beschriebenen Menschen nicht wirklich sicher im Umgang mit den Medien und haben daher bei aller Neugier des Lesers ein Recht auf Privatheit. Diese Texte sollen für den Leser und die Leserin eine leise, aber widerborstige Alternative sein zu den schreienden Banalitäten rund um Hollywood-Starlets, Seherquoten und Börsen-Hype. Sie mögen offen und sensibel machen für den Blick auf die eigene unmittelbare Umgebung, die oft irritierender und exotischer ist als jede Ferienkolonie am anderen Ende der Welt, als jede Geschäftsreise in fremde Städte, wo man doch nur wieder seinesgleichen trifft. Dreiunddreißig Reportagen – dreiunddreißig ganz unterschiedliche Menschen. Eines aber haben sie gemeinsam: Sie wissen um die Bedeutung des Wortes „lernen". Das gilt für die Wiedereinsteigerin, die es in ihrer zweiten Karriere bis zur Wiener Geschäftsführerin eines großen deutschen Schmuckhändlers gebracht hat. Das gilt für den weststeirischen Industriedienstleister, der stolz in den dicken Aktenordnern blättert, die die Englisch- und Management-Kurse seiner Belegschaft dokumentieren. Und das gilt letztlich auch für jene, die ausgesperrt geblieben sind vom allgemeinen Wohlstand: Die Küchenkraft, die keine Lehre abgeschlossen hat, drängt heute ihre Kinder in die Schule, „damit es ihnen nicht so geht wie mir". Dass in diesem Buch Frauen in der Minderheit sind, ist kein Zufall. Selbst hartnäckige Recherche hat in vielen Zukunftsfeldern bei der Suche nach weiblichen Beispielen ein „leider nein“ ergeben, und auf einige medienbekannte Fälle wurde auch verzichtet: Sie hätten das Bild allzusehr verfälscht. Denn wenn man einen Schluss aus diesen – nicht repräsentativen – Gesprächen ziehen kann, dann ist es der, dass Österreich, was den Anteil von Frauen in Führungspositionen und in technischen Berufen anlangt, noch deutlich hinter Westeuropa, aber auch einigen mitteleuropäischen Nachbarländern herhinkt. Dennoch finden sich quer durch die Branchen immer häufiger gewisse Werthaltungen, die man früher gern ausschließlich Frauen zugeschrieben hat. Für den karriereorientierten jungen Aktienhändler ist das angenehme Betriebsklima mindestens ebenso wichtig wie sein Verdienst. Und immer wieder erzählt der eine oder andere, dass er ein profitables Unternehmen verlassen und eine gutbezahlte Stellung aufgegeben hat, weil „die Stimmung nicht gepasst“ hat. In mehreren Fällen „optimieren“ – um im ökonomischen Jargon zu bleiben – die Portraitierten nicht ihr Einkommen, sondern ihre Lebensqualität. Die Sammlung enthält auch eine Reihe von Beispielen für unentgeltliche Arbeit. Denn warum sollte man aus Amerika nur die ungezügelte Gewalt der Finanzmärkte übernehmen und nicht auch die ungleich sympathischere Energie der „civil society“ mit ihren Wohltätigkeitsbazaren und Ehrenämtern? Diese „civil society“ wird – neben weiterer Internationalisierung und neuen Technologieschüben – mit großer Wahrscheinlichkeit auch in Europa bald ein große Rolle spielen. Entstaatlichung und schmale Budgets reißen Lücken im sozialen Netz, die von eigenverantwortlichen Menschen geschlossen werden müssen. Dazu bedarf es – gerade in Österreich mit seiner hochentwickelten Kunst, alles an den Staat zu delegieren – eines gewaltigen Umdenkprozesses. Es bieten sich aber auch ebenso große Chancen: Wer für den Markt scheinbar für nichts mehr zu gebrauchen ist, könnte wieder in die Gesellschaft zurückgeholt werden, könnte die Gelegenheit zu eigener Leistung erhalten und so seinem Leben wieder einen Sinn geben. Die Kluft zwischen entfremdeter Arbeit und selbstbestimmtem Leben, an der die meisten jahrzehntelang leiden, könnte ein kleines bißchen schmäler werden.