Czernin

Christian Friesl

Experiment Jung-Sein

Die Wertewelt österreichischer Jugendlicher

Im November 2000 erschien im Czernin Verlag der erste von drei Bänden zur Europäischen Wertestudie, die seit 1990 auch in Österreich Wertehaltungen und Lebenseinstellungen der Menschen in diesem Land erforscht: „Die Konfliktgesellschaft. Wertewandel in Österreich 1990-2000". Dieser weitreichenden Analyse der österreichischen Ergebnisse und ihrer Entwicklung in den letzten zehn Jahren – erstellt von einer Autorengruppe um Christian Friesl und Paul M. Zulehner - folgt nun ein zweiter Band. In dessen Zentrum steht nach den Erwachsenen nun die Lebenswelt der jugendlichen Bevölkerung in Österreich.

Globalziel der „Österreichischen Jugend-Wertestudie 1990-2000“ ist die Erforschung von Lebenskonzepten und Werthaltungen junger ÖsterreicherInnen zu person- und gesellschaftsbezogenen Themenfeldern. Durch den Replikationscharakter der Untersuchung (ein Vergleich mit den Daten aus 1990 ist – neben dem Vergleich mit den Ergebnissen der Erwachsenen-Untersuchung „Europäische Wertestudie“ - ein zentraler Punkt der Studie) sind nicht nur Informationen über die Meinungen, sondern vor allem Ergebnisse über Strukturen, Hin-tergründe und Veränderungen der Einstellungslage zu erwarten.

 

Leseprobe:

Jung-Sein als Experiment „,Ich bin das Experiment, das gelingen muss!‘, lautet die Devise junger Menschen (Beck). Statt fester Fahrpläne haben jugendliche Lebensläufe zunehmend Bastelcharakter, vergleichbar ,sich selbst tragenden freischwebenden Konstruktionen. Beck spricht noch direkter von den ‚Artisten in der Zirkuskuppel‘.“ (Fürstenberg 1998, 488) Vorbei sind die Zeiten, in denen man im Bewusstsein heranwuchs, nach der Schule zu heirateten, Kinder zu bekommen und einen Beruf fürs Lebens zu finden. Jungsein bedeutet heute, dass man die eigene Identität konstruieren kann und muss. Die Individualisierung jugendlicher Lebensweisen zeigt sich in einer umfassenden Pluralisierung von Szenen und Lebensstilen: Jugendliche wurden eine „unübersichtliche Generation". Auch die Werthaltungen der Jugendlichen erweisen sich als komplex und widersprüchlich. Verschiedenste Weltanschauungen können nebeneinander existieren, Pluralität ist erlaubt, ohne mit gesellschaftlichen Sanktionen rechnen zu müssen. Die Vielfalt der Kombinationsmöglichkeiten macht die Suche nach einer einzigen Interpretation der empirischen Daten unmöglich. Ein und dasselbe Phänomen kann auf verschiedenste Weise gedeutet werden – je nach Perspektive kann die Bedeutung eines Wertes in das Gegenteil seiner selbst kippen. Ein hermeneutisches Grundkonzept unserer Interpretationen ist die „Kippthese": Die Ergebnisse werden auf phänomenologischer Basis in ihren mehrdeutigen Konnotationen sichtbar gemacht. Hintergrundfolie der Interpretation in diesem Kapitel sind dabei die jüngeren jugend- und religionssoziologischen Diskussionen und auch die Ergebnisse der Österreichischen Wertestudie 1990-2000 (vgl. Denz u.a. 2001). 1. Das Leben – ein Experiment Verschiedene Rollen auszuprobieren, mit sich selbst, mit Beziehungen und Werthaltungen zu experimentieren, hat immer schon zum Jungsein gehört und prägt – unabhängig von kulturellen, biografischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – die Lebensgestalt des Jugendlichen: „Der Grundcharakter dieser neuen Lebensgestalt ist, wenn ich recht sehe, durch zwei Momente bestimmt. Ein positives: die Aufstiegskraft der sich betonenden Personalität wie der durchdringenden Vitalität – ein negatives: der Mangel an Wirklichkeitserfahrung.“ (Guardini 1996, 24) Auch Erik Erikson sieht in der Identitätsentwicklung die zentrale Aufgabe des Jugendalters: Es geht darum, Selbstgewissheit, Zutrauen zur eigenen Leistung, eine sexuelle Identität zu entwickeln, mit Rollen zu experimentieren und sich weltanschaulich zu positionieren (Erikson 1994, 150). Das reifungsbedingte Experimentieren wird durch die gesellschaftlichen Veränderungen der Gegenwart massiv verstärkt. In der „Entselbstverständlichung“ alter Normen und Ordnungen wird das Leben für alle Menschen zum Experiment. Man spricht vom „Ende der Normbiografien". Eine eigene, kongruente Identität zu entwickeln beschränkt sich nicht mehr nur auf die Phase des Jungseins, sondern wird auch für Erwachsene zu der Herausforderung der Zukunft. * Jugendliches Experimentieren wird heute mehrheitlich akzeptiert, Erwachsene wollen die jugendliche Lust am Ausprobieren nicht mehr in erster Linie in geregelte Bahnen bringen. Ohne soziale Rückendeckung durch Umfeld oder Familie wird das Sich- Durchsetzen in einer leistungsorientierten Arbeitswelt, in der die Einzigartigkeit der individuellen Qualifikation über Auf- und Abstieg entscheidet, zu einer nicht zu unterschätzenden Hürde für viele junge Menschen. Umgekehrt eröffnen sich auch ungeahnte Entwicklungsräume, das Leben ist weniger verregelt und die Chancen stehen gut, „das Beste“ aus sich herauszuholen. * Der Begriff der Identitätsentwicklung im Sinne der Reifung eines „festen Charakters“ kommt in die Krise, da ein solcher den Herausforderungen der Gegenwart nicht standhalten kann. Man spricht heute von so genannten „Recherche-Ichs“, „Zufalls-Ichs“ oder „Patchworkidentitäten“ (Baacke 1987) – Identitäten, die sich nach Bedarf neu formieren. Bedeutet das gleichzeitig auch den Verlust und Verzicht auf die Entwicklung eines stabilen, kontinuierlichen Selbst? * Die Erwachsenen stehen einer ungewisser gewordenen Zukunft genauso verunsichert gegenüber wie junge Menschen. Gelungene Modelle „experimentellen Lebens“ gibt es (noch) nicht allzu viele. Das moderne „Leitbild ist der ,egotaktische’, leicht aufgedrehte, kontaktfreudige, optimistische und erfolgreiche ,Selbst-Animateur’, der gute Laune ausstrahlt, flexibel und außengeleitet ist, positiv denkt und erfolgreich ist“ (vgl. Ferchhoff 1995, 52). * Die Unsicherheit angesichts der „Zukunftskrise“ (vgl. Copray 1987) kann die Generationen aber auch vereinen und gemeinsam humane Wege des Experimentierens suchen lassen. Die Jugend-Wertestudie 2000 dokumentiert Tatsache und Notwendigkeit des Experimentierens in allen Lebensbereichen: * Jugendliche wünschen sich in ihren Beziehungen eine Balance zwischen emotionaler Nähe und Autonomie. Dies führt zu veränderten Formen von Freundschaften und Partnerschaften. Das Verhältnis zwischen Nähe und Distanz muss immer wieder neu mit sich selbst und dem anderem ausgehandelt werden. * Jugendliche wünschen sich für ihr (zukünftiges) Berufsleben eine Ausgewogenheit von Herausforderung und Sicherheit, von Arbeit, Freizeit und Familie, und sind bereit, sich für diese Balance zu engagieren. Dazu bedarf es aber auch der Experimentierfreudigkeit von Wirtschaft und Politik. * Die Experimentierfreudigkeit zeigt sich auch im religiösen Bereich: Die Jugendlichen verlassen zwar die Kirchen, verlieren aber keineswegs ihre religiösen Sehnsüchte und basteln sich ihre religiöse Weltanschauung nach ihren persönlichen Bedürfnissen. * Enttäuschung und Resignation angesichts institutionalisierter Politik sind groß, das politische Interesse ist damit aber (noch) nicht gänzlich verschwunden. Jugendliche wünschen sich politisches Engagement abseits traditioneller Strukturen und sind auch in diesem Bereich Experimenten gegenüber durchaus aufgeschlossen.