Czernin

Jiří Gruša

Als ich ein Feuilleton versprach

Handbuch des Dissens und Präsens

Auf die Frage, wo Jiri Gruša eigentlich anzutreffen ist, pflegte dieser zu antworten: Auf Reisen! Ein „statement“, das nichts offen lässt, zugleich wohl auch zum Charakteristikum eines bewegten Lebens wird. Bliebe hinzuzufügen, dass Reisen in erster Linie Passion ist, und erst in zweiter, wenn überhaupt, Vergnügen.

Glücklich heimatlos nannte sich der Autor selbst in einem seiner Werke - eine Betrachtung, die das „unterwegs sein“ längst inkludiert, als Lebensmittelpunkt. Jiri Gruša begann seine Reise als Literat, er setzte sie fort als Dissident, Minister, Botschafter und Präsident, ohne den Zugang des Dichters zu verlieren, dem nichts entgeht, der mit spitzer Zunge zu formulieren weiß. Die hier vorliegenden Essays, Überlegungen und Interviews der Jahre 1964 bis 2004 sollen die sprachliche und mentale Reise dokumentieren, vor allem aber auch der Vielseitigkeit des Schaffens von Jiri Gruša Rechnung tragen. Die Textauswahl selbst stellt eine Rarität dar - viele Beiträge sind deutsche Erstveröffentlichungen, manches ist längst vergriffen und einiges „nur“ als Zeitungsausschnitt erhalten oder nie publiziert worden. Somit liegt eine „Nachlese“ vor, die hoffentlich auch ausgesprochenen Kennern seiner Beiträge etwas Neues bringt - und allen anderen nicht zuletzt Denkanstöße bereiten mag.

 

Leseprobe:

Tja, die Vergangenheit! Nichts ist doppelsinniger als ihr Eigensinn! Man kann sie bewältigen oder beschwören. Bei der Bewältigung bringst du sie hinter dich, bei der Beschwörung erlaubst du ihr, dich zu vergewaltigen. Ich höre manche bei uns schon lustvoll stöhnen… . Wäre es nicht besser, stattdessen die Kunst des Vergessens zu üben? Sie meint keine Vergesslichkeit, kein Nicht-Wissen-Wollen. Sie meint nur ein mildes Gedächtnis, ein kultiviertes Erinnern. Dies bedeutet jedoch einen neuen Narrativ: also kein Erzählen gegeneinander, sondern gemeinsam. Nicht die Geschichte, sondern Geschichten werden uns freier machen. Vernetztes Erzählen. Mit einem einzigen Kanon: das Wenig-Emotive zeigt mehr Gefühl und ist gerechter zu den eigenen Interessen. Keine Nörglerei also - als Kunst. Und eine Verfassung soll her, ehest möglich! Mit einem Satz am Anfang wie: Wir, die Nationen Europas, sind uns endlich dessen bewusst, was unsere Kriege kosten, wollen nun unser Anders-Sein nutzen - als Quelle der Schöpfungskraft.